Migros: Wie ein störrischer Zürcher die Schweiz aufmischte

Wenn Du heute in der Migros Deinen Joghurt, Dein Gipfeli oder sogar Deinen Laptop kaufst, wirkt das selbstverständlich. Doch stell Dir Zürich im Jahr 1925 vor: Lebensmittel einkaufen hiess damals, in enge Kolonialwarenläden zu gehen, wo der Ladenbesitzer Dich kannte – und Deine finanzielle Lage gleich mit. Wer knapp bei Kasse war, kaufte auf Kredit, zu stolzen Preisen. Fairness? Kaum.

Und dann kam einer wie aus dem Nichts: Gottlieb Duttweiler, ein Zürcher mit mehr Dickschädel als Geduld für alte Strukturen. Statt in die wohlgeordnete Handelswelt einzutreten, rollte er mit fünf Lastwagen durch Zürich, vollgepackt mit genau sechs Artikeln: Kaffee, Zucker, Reis, Teigwaren, Kokosfett und Seife. Fertig. Kein Luxus, keine Schnickschnack-Auswahl, sondern das, was die Leute wirklich brauchten.

Die Idee war so simpel, dass sie schon wieder revolutionär war: Direkt zum Kunden, keine Zwischenhändler, Kampfpreise. Und genau diese Schlichtheit machte den Erfolg aus – auch wenn die Konkurrenz schäumte.

Der erste Skandal: zu billig, um wahr zu sein

Die Bevölkerung staunte nicht schlecht: Plötzlich gab es Zucker für 35 statt 50 Rappen, Kaffee fast zum halben Preis. In einer Zeit, in der die Schweiz noch von den Nachwirkungen des Ersten Weltkriegs und der Inflation geprägt war, war das ein Geschenk.

Die Kolonialwarenhändler hingegen sahen rot. So viel günstiger? Das konnte nur Betrug sein! Ein Gegner soll einmal gesagt haben: „Das ist kein Handel mehr, das ist Preiszerstörung!“ – und traf damit ungewollt den Nerv der Zeit.

Doch Duttweiler wusste: Gerade dieser „Skandal“ war seine beste Werbung. Denn die Leute merkten sofort, dass sie bei Migros tatsächlich sparen konnten.

Zahlen, die keine Diskussion zulassen

Manchmal sind es nackte Zahlen, die einen Streit entscheiden. Schon im ersten Jahr setzte die Migros mit ihren fünf Wagen und 25 Mitarbeitenden einen Umsatz von 778’500 Franken um – eine Summe, die sämtliche Skeptiker verstummen liess.

Die Verkaufswagen bedienten 178 Haltestellen in Zürich. Die Menschen standen Schlange, oft über eine Stunde, um an die günstigen Produkte zu kommen. Wagen, die morgens starteten, waren mittags leerverkauft.

Als die Politik begann, die Wagen einzuschränken, reagierte Duttweiler pragmatisch: 1926 eröffnete er seinen ersten stationären Laden an der Zürcher Ausstellungsstrasse. Die Einrichtung kostete gerade mal 200 Franken – kein architektonisches Wunderwerk, aber ein starkes Signal: Migros bleibt.

Eigenproduktion: Wenn Dich keiner beliefern will, produziere selber

Doch billige Preise allein halfen wenig, wenn plötzlich niemand mehr liefern wollte. Viele Grosshändler weigerten sich, Migros zu beliefern – unter massivem Druck der Konkurrenz. Für die meisten Unternehmer wäre das das Ende gewesen. Für Duttweiler war es bloss der Anfang einer neuen Phase.

Er beschloss, die Versorgung selbst in die Hand zu nehmen. So entstanden nach und nach die ersten Produktionsbetriebe:

  • Aproz für Mineralwasser,

  • Jowa für Brot und Backwaren,

  • Chocolat Frey für Schokolade.

Damit machte er Migros unabhängig. Keine Abhängigkeit mehr von wankelmütigen Zulieferern, keine Erpressung. Und gleichzeitig ein Argument für die Kunden: Wir produzieren selbst, damit Du weiterhin günstig einkaufen kannst.

Kommunikation à la Duttweiler: nicht flüstern, sondern brüllen

Wenn Du heute an Marketing denkst, stellst Du Dir wohl Hochglanzbroschüren vor. Duttweiler hatte da eine andere Vorstellung. Er schrieb selbst Artikel, entwarf Flugblätter und hielt Reden, in denen er die Preisabsprachen der Händler anprangerte.

Sein Lieblingsbild: David gegen Goliath. Er, der kleine Mann mit fünf Lastwagen, gegen die mächtigen Handelsgiganten. Die „NZZ“ schrieb damals spöttisch von einem „fahrenden Kaufladen, der die Ordnung gefährdet“. Doch genau dieses Misstrauen machte ihn populär.

Die Leute liebten es. Endlich einer, der nicht kuschte, sondern für faire Preise kämpfte. Migros wurde nicht nur ein Laden, sondern eine Bewegung für Gerechtigkeit im Alltag.

Politischer Widerstand? Ein Umweg mehr

Die Händlerlobbys gaben nicht auf. 1933 kam es gar zu einer Volksinitiative, die die Migros-Verkaufswagen verbieten wollte. Eine ganze Initiative, nur um fünf Lastwagen zu stoppen!

Und Duttweilers Antwort? „Wenn man mir die Wagen nimmt, baue ich Häuser“, soll er gesagt haben – und eröffnete einfach mehr stationäre Läden. Später baute er sogar eine eigene Tankstellenkette auf, wieder mit günstigeren Preisen, wieder zum Ärger der Konkurrenz.

Seine Hartnäckigkeit war legendär. Für ihn war jedes Hindernis bloss ein Umweg – und Umwege führen bekanntlich auch ans Ziel.

Der nächste Coup: die Genossenschaft

1935 ging Duttweiler noch einen Schritt weiter. Er wandelte die Migros in eine Genossenschaft um. Statt ein Konzern im Besitz weniger Investoren zu sein, wurde Migros zu einer Organisation der Kundinnen und Kunden. Jeder konnte Mitglied werden, mitbestimmen und von Rückvergütungen profitieren.

Damit veränderte er nicht nur die Besitzstruktur, sondern auch das Verhältnis zur Bevölkerung. Die Migros war nicht länger „der Laden um die Ecke“, sondern „unser Laden“.

Mehr als Konsum: Das Kulturprozent

Ein Geschäft, das bloss auf Profit aus ist? Nicht bei Duttweiler. 1957 führte er das Migros-Kulturprozent ein: 1 % des Umsatzes fliesst in Bildung, Kultur und soziale Projekte. Eine freiwillige Selbstverpflichtung, die bis heute jedes Jahr hunderte Millionen Franken in die Gesellschaft zurückgibt.

Dazu kamen Projekte wie die Klubschule Migros, die Generationen von Schweizer:innen Weiterbildung ermöglicht hat, oder Kulturhäuser und Theater, die ohne Migros kaum existieren würden.

So zeigte Duttweiler, dass sein Unternehmen nicht nur Lebensmittel verkaufte, sondern Verantwortung übernahm.

Werte, die bleiben

Ein Prinzip, das bis heute polarisiert, ist das Verkaufsverbot von Alkohol und Tabak in Migros-Läden. Duttweiler war überzeugt, dass ein Unternehmen Verantwortung für die Volksgesundheit trägt. Natürlich war das nicht allen recht – Alkohol verkauft sich schliesslich gut. Doch genau diese Konsequenz machte ihn glaubwürdig.

Das Fazit: Widerstand als Erfolgsrezept

Wenn Du die Geschichte der Migros in einem Satz zusammenfassen willst, dann vielleicht so: Widerstand war kein Hindernis, sondern der Treibstoff.

  • Boykott durch Lieferanten? → Eigenproduktion.

  • Politische Angriffe? → Neue Geschäftsmodelle.

  • Skepsis in der Bevölkerung? → Faire Preise, Transparenz, Genossenschaft.

Was 1925 mit fünf Wagen und sechs Artikeln begann, ist heute die grösste Detailhandelskette der Schweiz – mit über 100’000 Mitarbeitenden, 2,3 Millionen Genossenschaftern und einem Umsatz von mehr als 30 Milliarden Franken jährlich.

Die Ironie der Geschichte? Ausgerechnet der „Störenfried“, der die Wirtschaft angeblich ruinieren wollte, wurde zu einer ihrer tragenden Säulen. Oder, wie Duttweiler selbst einmal sagte: „Man hat mich als Verrückten bezeichnet. Heute nennt man es Innovation.“

Kurz gesagt: Die Migros ist nicht nur ein Ort, wo Du Deine Milch kaufst. Sie ist ein Stück Schweizer Identität. Ohne Widerstand wäre sie vielleicht bloss ein Laden geblieben. Dank Widerstand wurde sie zur Legende.

Zurück
Zurück

Coop vs. Migros: Evolution trifft Revolution

Weiter
Weiter

Was, wenn der Staat das Problem ist – nicht die Lösung?