Warum das Leben in der Schweiz immer teurer wird – und was wir (theoretisch) dagegen tun könnten
Man sagt ja gern, wir Schweizerinnen und Schweizer hätten ein besonderes Talent fürs Klagen auf hohem Niveau. Sobald der Latte Macchiato an der Bahnhofstrasse 50 Rappen teurer wird, beginnen wir halblaut über den Zerfall unseres Wohlstands zu philosophieren. Doch wenn es um die realen Lebenshaltungskosten geht, ist das Klagen inzwischen mehr als blosses Lamentieren: Es ist der nüchterne Ausdruck einer Entwicklung, die viele Menschen im Alltag spüren. Selbst Haushalte, die vor wenigen Jahren noch problemlos über die Runden kamen, berichten heute, dass das Budget eng wird. Dabei ist die Schweiz objektiv betrachtet ein reiches Land – aber offenbar nicht reich genug, um strukturelle Ineffizienzen dauerhaft zu tragen.
1. Wohnen: Der teuerste Volkssport des Landes
Beginnen wir beim naheliegendsten Problem: dem Wohnen. Für viele Familien nimmt die Miete inzwischen einen so grossen Teil des Einkommens ein, dass nach der Überweisung des Mietzinses bereits der halbe Monat vorbei zu sein scheint. Laut Bundesamt für Statistik machen die Wohnkosten bei Mieterhaushalten rund 19.2 Prozent des Bruttoeinkommens aus. Für Eigentümer liegt der Anteil zwar tiefer, doch die Möglichkeit, überhaupt Wohneigentum zu erwerben, ist in den letzten Jahrzehnten stark geschrumpft. Zwischen 2000 und 2023 sind die Mieten um rund 30 Prozent gestiegen, während die Preise für Wohneigentum sogar um etwa 80 Prozent in die Höhe geklettert sind. In städtischen Gebieten geben Haushalte mit niedrigem Einkommen regelmässig über 30 Prozent ihres Einkommens für Wohnkosten aus – eine Schwelle, die gemeinhin als wirtschaftlich belastend gilt.
Warum das so ist, lässt sich nicht nur mit „Marktsituation“ erklären. Die Schweiz hat beim Bauen eine gewisse Liebe zum Perfektionismus entwickelt. Bauvorschriften regeln jeden Zentimeter eines Gebäudes, Bewilligungsverfahren ziehen sich teils über Jahre, und die Zonenplanung ist so starr, dass man gelegentlich das Gefühl hat, es handle sich eher um eine sakrale Schrift denn um ein politisches Steuerungsinstrument. Die Lösung wäre im Grunde einfach: weniger langwierige Bewilligungsverfahren, flexiblere Zonen, mehr Verdichtung, ein Mietrecht, das Investitionen nicht bestraft. Doch pragmatische Lösungen sind politisch selten so attraktiv wie die Verwaltung des Status quo.
2. Gesundheit: Weltklasse – und weltklasse teuer
Das Schweizer Gesundheitssystem gehört ohne Zweifel zu den besten der Welt. Dass diese Qualität jedoch ihren Preis hat, wissen alle, die einmal die Jahresabrechnung ihrer Krankenkasse gesehen haben. Die Gesundheitsausgaben der Schweiz beliefen sich im Jahr 2023 auf knapp 94 Milliarden Franken – das entspricht 11.7 Prozent des BIP. Pro Kopf entstehen monatlich Kosten von durchschnittlich 881 Franken. Die Prämien steigen seit Jahren kräftig: 2025 etwa um durchschnittlich sechs Prozent, nachdem sie in den letzten zehn Jahren bereits um über 38 Prozent erhöht worden sind. Insgesamt ist das Gesundheitssystem binnen zwanzig Jahren um rund 60 Prozent teurer geworden.
Die Gründe dafür liegen nicht primär in bösem Willen oder mangelnder Effizienz auf Seiten der Leistungserbringer, sondern in einer Struktur, die Wettbewerb eher verhindert als fördert. Ein starrer Pflichtleistungskatalog setzt enge Grenzen, Tarifmonopole erschweren Preisdifferenzierung, kantonale Spitallisten verhindern freien Wettbewerb zwischen Leistungserbringern, und fehlende Transparenz erschwert es Patientinnen und Patienten, Kosten und Qualität zu vergleichen. Reformen, die Wettbewerb ermöglichen, hätten das Potenzial, den Kostendruck langfristig zu entschärfen – doch der politische Wille dazu ist traditionell zurückhaltend.
3. Kinderbetreuung: Teurer als Ferien in der Karibik
Wer kleine Kinder hat, weiss: Die Schweiz leistet sich ein Luxusgut, das paradoxerweise nicht als solches wahrgenommen wird – die Kinderbetreuung. In vielen Städten kostet ein Vollzeit-Kitaplatz zwischen 2’000 und 3’000 Franken pro Monat, und in zahlreichen Familien übersteigt dieser Betrag die Miete. Verschiedene Städte haben in den letzten zehn Jahren Kostensteigerungen von 10 bis 20 Prozent verzeichnet.
Dass die Betreuungskosten so hoch sind, hängt mit strengen Vorgaben zusammen. Personalschlüssel, Qualifikationsanforderungen, detaillierte Raum- und Hygienevorschriften sowie ein reguliertes Subventionssystem schaffen eine Situation, in der Anbieter kaum Spielraum für neue Modelle haben. Wettbewerb findet praktisch nicht statt. Gleichzeitig führt das Subventionssystem mancherorts dazu, dass Preise stabilisiert statt gesenkt werden – eine ökonomische Absurdität, die nur entstehen kann, wenn Regulierung und Marktmechanismen sich gegenseitig neutralisieren.
Eine wirksame Entlastung der Familien wäre möglich: durch angemessene Lockerungen, ohne Qualitätsverlust, durch neue Angebotsformen wie Micro-Kitas oder Elternkooperativen und durch Subventionen, die tatsächlich preisreduzierend wirken. Es wäre nicht kompliziert – aber es bräuchte Mut, alte Muster zu verlassen.
4. Löhne, Produktivität und die Realität der Mittelschicht
Während die Lebenshaltungskosten seit Jahren kräftig wachsen, tun dies die Löhne nicht in gleichem Masse. Zwischen 2010 und 2023 sind die Reallöhne gerade einmal um vier Prozent gestiegen – pro Jahr entspricht dies einem mageren Zuwachs von rund 0.3 Prozent. Gleichzeitig klettern die Preise für zentrale Güter und Dienstleistungen kontinuierlich: Mieten um 30 Prozent, Gesundheitskosten um 60 Prozent, Krankenkassenprämien um knapp 40 Prozent und Lebensmittel um rund 20 Prozent.
Ein Grund für die Stagnation liegt in der Produktivität. Sie ist in der Schweiz zwischen 2012 und 2022 lediglich um 7.6 Prozent gestiegen, während Länder wie die USA oder Luxemburg zweistellige Zuwächse verzeichnen. Geringes Produktivitätswachstum bedeutet geringen Spielraum für steigende Löhne. Gleichzeitig erschweren administrative Anforderungen den wirtschaftlichen Alltag. Die Schweiz liegt beim globalen Indikator „Starting a Business“ lediglich auf Rang 75, was bemerkenswert ist für ein Land, das sich sonst gern als unternehmerfreundlich versteht. KMU verbringen gemäss KOF-Studien rund 20 Prozent ihrer Zeit mit administrativen Pflichten – Zeit, die für Innovation und Wertschöpfung fehlt.
5. Inflation: Der stille Kaufkraftfresser
Die Inflation in der Schweiz ist im Vergleich zu anderen Ländern relativ moderat, doch auch moderater Regen durchnässt Dich, wenn es den ganzen Tag nieselt. Mit 2.8 Prozent im Jahr 2022 (dem höchsten Wert seit drei Jahrzehnten), 2.1 Prozent im Jahr 2023 und 1.6 Prozent im Jahr 2024 zeigt sich, dass selbst moderate Inflation Auswirkungen auf die Kaufkraft hat. Besonders relevant sind die Bereiche, in denen die Preise überdurchschnittlich steigen: Lebensmittel kosten im Schweizer Durchschnitt 162 Prozent des EU-Niveaus, ÖV-Abonnemente wurden seit 2016 um rund 20 Prozent teurer, und die Mieten steigen mit jedem Anstieg des Hypothekar-Referenzzinses, der mehr als 1.7 Millionen Haushalte betrifft.
Inflation trifft die Mittelschicht besonders hart, weil ein grosser Teil ihrer Ausgaben in Bereichen liegt, die sich nicht vermeiden lassen: Wohnen, Mobilität, Gesundheit und Grundnahrungsmittel.
6. Der Schweizer Haushalts-Realtest
Ein durchschnittlicher Haushalt verfügt laut Bundesstatistik über ein monatliches Nettoeinkommen von rund 6’700 Franken. Das klingt zunächst komfortabel – bis die Fixkosten abgezogen werden. Für Miete fallen je nach Region zwischen 1’500 und 2’200 Franken an, Krankenkassenprämien verschlingen bei einer vierköpfigen Familie zwischen 800 und 1’500 Franken, Mobilität nochmals 300 bis 600 Franken, und Kinderbetreuung schnell 1’000 bis 3’000 Franken pro Kind. Damit kommen viele Haushalte bereits auf Fixkosten von 5’000 bis 6’000 Franken im Monat – bevor sie auch nur einen Franken für Lebensmittel, Freizeit, Rücklagen oder Kleidung ausgegeben haben.
An diesem Punkt wird klar: Die steigende Belastung ist kein individuelles, sondern ein strukturelles Problem.
7. Fazit: Die Schweiz hat kein Einkommens-, sondern ein Strukturproblem
Die Schweiz ist ein reiches Land, aber sie arbeitet zunehmend gegen ihre eigenen Stärken. Wohnraum ist teuer, weil Bauen erschwert wird. Gesundheit ist teuer, weil Wettbewerb fehlt. Kinderbetreuung ist teuer, weil Regulierung Innovation verhindert. Löhne stagnieren, weil Produktivität gehemmt wird. Und der Alltag wird teuer, weil Inflation unterschätzt wird. Das Land hat kein Einkommens-, sondern ein Strukturproblem – und dieses Problem lässt sich lösen, wenn man bereit ist, sich von gewissen liebgewonnenen, aber hinderlichen Mechanismen zu verabschieden.
8. Und jetzt?
Die Schweiz könnte schnell und effektiv entlastet werden – durch einfachere Bauvorschriften, mehr Wettbewerb im Gesundheitswesen, flexiblere Kinderbetreuungsmodelle, weniger Bürokratie, klare Innovationsanreize und eine konsequente Inflationskontrolle. Keine dieser Massnahmen wäre revolutionär. Im Gegenteil: Sie wären pragmatisch und würden den Menschen unmittelbar helfen.
Das Einzige, was dafür fehlt, ist Mut. Und Mut ist – anders als hohe Mieten und Krankenkassenprämien – in der Schweiz ein knappes Gut. Aber vielleicht ändert sich das ja.
Anhang: Quellenliste
1. Wohnkosten, Mieten & Wohneigentum
Bundesamt für Statistik (BFS): Wohnkosten & Wohnsituation (2021)
ReHousIn EU-Projekt (2023): National Report on Housing Inequalities: Switzerland
2. Gesundheitskosten & Krankenversicherungsprämien
BFS: Gesundheitsausgaben der Schweiz (2023)
Swissinfo (2024): Health insurance premiums to rise by 6 % in 2025
Moneyland (2024): Historical premium increases study
3. Lebensmittelpreise & Konsumentenpreise
Eurostat (2023): Comparative price levels in Europe
4. Kinderbetreuung
Offizielle städtische Tariftabellen (Zürich, Basel, Genf)
5. Löhne, Produktivität & Wirtschaftsdynamik
BFS: Lohnentwicklung 2010–2023
OECD Productivity Statistics (2022)
WEF Global Competitiveness Index (2023)
KOF ETH: KMU-Panel zur administrativen Belastung
6. Inflation & Preisentwicklung
BFS: Landesindex der Konsumentenpreise 2022–2024
SNB: Inflationsberichte
BWO: Mietpreisindex
7. Staatsquote & Regulierungsumfeld
EFV: Staatsrechnung Schweiz
SECO: Regulierungs- und Bürokratiekostenstudien