Wenn der Staat zu viel will – und plötzlich gar nichts mehr kann

Eine kleine Anatomie des amerikanischen Stillstands (und was er uns über Macht, Freiheit und Bürokratie verrät)

I. Die grosse Pause

Es ist still in Washington. Nicht im metaphorischen Sinn – wirklich still. Regierungsgebäude leer, Behörden im Energiesparmodus, Beamte zu Hause. Die USA, die sonst für Tempo, Drama und Dauerbetrieb stehen, haben einen Knopf gefunden, den sie offenbar nur selten drücken: „Pause“.

Seit Wochen läuft der amerikanische Bundesstaat auf Sparflamme. Offiziell heisst das „Government Shutdown“, inoffiziell ist es ein kollektives Eingeständnis: Die Politik weiss nicht weiter. Kein Haushalt, keine Einigung, kein Geldfluss – aber jede Menge Schuldzuweisungen.

Und wie immer in solchen Momenten stellt sich die unbequeme Frage: Was bleibt eigentlich übrig, wenn der Staat innehält?

Die Antwort ist ernüchternd – und erhellend zugleich. Denn selbst im Stillstand funktioniert erstaunlich viel weiter. Die Polizei schützt, das Militär bewacht, die Gerichte urteilen, die Flugsicherung lenkt den Himmel. Das Land lebt. Vielleicht etwas weniger bequem, aber immerhin: es lebt.

Man könnte fast sagen, der „Shutdown“ ist weniger eine Katastrophe als ein unfreiwilliges Sozialexperiment. Ein Stresstest für eine alte Idee: dass Gesellschaften auch dann funktionieren, wenn nicht jede Entscheidung von oben kommt.

II. Wenn zu viel Wissen schadet

Der offizielle Grund für die Blockade klingt technisch: Der Kongress hat es nicht geschafft, rechtzeitig ein Budget für das neue Fiskaljahr zu verabschieden. In der Praxis ist es ein Machtkampf zwischen zwei politischen Lagern – das eine will bestehende Sozialprogramme ausweiten, das andere will erst über neue Ausgaben reden, wenn die alten bezahlt sind.

Das klingt nach einem Streit über Zahlen, ist aber in Wahrheit ein Streit über Weltbilder. Denn dahinter steckt eine Frage, die in keiner Haushaltsdebatte offen gestellt wird: Wie viel weiss der Staat wirklich – und wie viel sollte er entscheiden dürfen?

In der Theorie ist das einfach: Der Staat soll jene Aufgaben übernehmen, die der Markt nicht leisten kann – Sicherheit, Recht, Infrastruktur. In der Praxis ist daraus ein politischer Gemischtwarenladen geworden. Die Regierung verteilt Stipendien, subventioniert Strompreise, kontrolliert den Klimaschutz, rettet Banken, fördert Chips und – ach ja – organisiert auch noch das Gesundheitswesen.

Das alles hat noble Gründe, doch das Ergebnis ist paradox: Je mehr der Staat weiss, desto weniger weiss er, was zu tun ist. Denn Wissen ist in einer modernen Gesellschaft keine Ware, die man zentral lagern kann. Es liegt in Millionen Köpfen, verteilt über Dörfer, Firmen, Familien. Wenn die Regierung also versucht, alles zu steuern, muss sie zwangsläufig zu viel versprechen – und zu wenig halten.

Der Shutdown ist, bei Licht betrachtet, genau das: ein Kollaps unter der Last zu grosser Ambitionen.

III. Die Mathematik der Ohnmacht

Ein paar Zahlen helfen, das Drama einzuordnen. Der amerikanische Bundeshaushalt beläuft sich auf rund 6,8 Billionen Dollar – etwa 24 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Das klingt abstrakt, bis man erfährt, dass in den Nachkriegsjahrzehnten 19 bis 20 Prozent als „normal“ galten. Der Staat ist also nicht nur grösser geworden – er ist grundsätzlich übergewichtig.

Über 70 Prozent der Ausgaben fliessen heute in Sozial- und Transferprogramme: Renten, Krankenversicherung, Subventionen. Für klassische Staatsaufgaben – Gerichte, Verteidigung, Infrastruktur – bleibt kaum mehr als ein Sechstel.

Die Staatsverschuldung liegt bei über 35 Billionen Dollar, rund 125 Prozent des BIP. In Zahlen: Jeder Amerikaner trägt im Schnitt 100’000 Dollar Staatschulden auf seinen Schultern, vom Säugling bis zum Rentner.

Und dann ist da noch die politische Dimension: Der Kongress hat seit 1997 (!) keinen vollständigen Haushalt mehr pünktlich verabschiedet. Zwischenzeitlich wurden dutzende „Notlösungen“ beschlossen, die Regierung per provisorischer Finanzspritze über Wasser zu halten. Ein Dauerzustand, der an eine Familie erinnert, die ihre Rechnungen nur noch mit Überziehungskrediten bezahlt – und sich dann wundert, warum der Dispo explodiert.

IV. Wenn Verantwortung delegiert wird – und niemand sie zurücknimmt

Hinter all dem steckt keine Böswilligkeit, sondern ein Muster: Je grösser der Staat wird, desto grösser wird die Versuchung, Verantwortung zu delegieren. Bürger delegieren sie an Politiker, Politiker an Experten, Experten an Kommissionen. Und alle zusammen an die Bürokratie.

Das funktioniert eine Weile erstaunlich gut. Doch irgendwann stellt man fest: Niemand weiss mehr genau, wer eigentlich verantwortlich ist.

Im aktuellen Shutdown zeigt sich das in Reinform. Beide Parteien sagen, sie wollten das Land „retten“. Beide blockieren einander so erfolgreich, dass nichts mehr passiert. Jeder verweist auf den anderen, niemand will nachgeben – schliesslich geht es um Prinzipien. Nur: Prinzipien helfen wenig, wenn die Gehälter der Bundesangestellten ausbleiben.

Das Resultat ist ein System, das sich selbst neutralisiert. Es ist nicht bösartig, nur – ineffizient. Eine Demokratie, die sich durch zu viele Checks and Balances selbst lähmt, verliert am Ende ihre Balance ganz.

V. Der Mythos vom grossen Staat

Es ist ein verbreiteter Irrtum, dass mehr Regierung automatisch mehr Ordnung bedeutet. Tatsächlich führt zu viel Steuerung oft zum Gegenteil: zu weniger Stabilität, weniger Vertrauen, weniger Anpassungsfähigkeit.

Denn je mehr der Staat verspricht, desto häufiger muss er enttäuschen. Und je häufiger er enttäuscht, desto stärker wächst die Forderung, er solle es „besser machen“. Das ist die politische Endlosschleife unserer Zeit: Der Staat scheitert – und wird dafür belohnt, indem er grösser wird.

Das amerikanische Drama ist dabei nur das prominenteste Beispiel. Viele westliche Demokratien kämpfen mit denselben Symptomen: steigende Schulden, sinkendes Vertrauen, wachsender Reformstau. Überall hört man denselben Refrain: „Der Staat muss handeln!“ – aber kaum jemand fragt: „Was kann er eigentlich noch leisten?“

VI. Die stille Stärke der Dezentralisierung

Während Washington sich blockiert, zeigen einige US-Bundesstaaten, dass es auch anders geht. Texas, Florida oder Utah haben in den letzten Jahren bewiesen, dass fiskalische Disziplin und wirtschaftliches Wachstum kein Widerspruch sein müssen. Ihre Haushalte sind ausgeglichen, ihre Schuldenquoten niedrig, ihre Bevölkerung wächst.

Warum? Weil sie mehr Freiraum haben. Föderale Verantwortung zwingt Regierungen, Prioritäten zu setzen – und macht sie rechenschaftspflichtig gegenüber jenen, die die Konsequenzen tragen.

Dezentralisierung ist kein romantisches Konzept, sondern ein praktisches. Sie verteilt Macht, Wissen und Fehler. Sie erlaubt es Gesellschaften, flexibel zu reagieren – anstatt auf die nächste Sitzung in der Hauptstadt zu warten.

Man könnte sagen: Während der grosse Apparat in Washington überhitzt, läuft die dezentrale Maschine im Rest des Landes einfach weiter. Ein unfreiwilliger Beweis dafür, dass Freiheit ein erstaunlich robustes Betriebssystem ist.

VII. Die kulturelle Wurzel des Problems

Hinter der ökonomischen Krise steckt letztlich eine kulturelle: die Abgabe von Verantwortung. Die Erwartung, dass jemand anderes – vorzugsweise der Staat – es schon richten wird.

Doch eine Gesellschaft, die ihre Eigenverantwortung abtrainiert, verliert mit der Zeit die Fähigkeit zur Selbstkorrektur. Sie ruft nach mehr Regulierung, wo sie eigentlich mehr Vertrauen bräuchte; nach neuen Gesetzen, wo alte Regeln längst ausreichen würden.

Der aktuelle Stillstand ist deshalb mehr als eine politische Episode – er ist ein Spiegel. Er zeigt, was passiert, wenn kollektive Bequemlichkeit auf institutionelle Trägheit trifft. Wenn Bürger und Politiker gemeinsam die Idee aufgeben, dass Freiheit auch Mühe kostet.

VIII. Die Ironie des Stillstands

Und so steht Washington still – und beweist, fast ironisch, dass Gesellschaft auch ohne Dauerlenkung überlebensfähig ist. Die Märkte funktionieren, der Alltag läuft, das Leben geht weiter. Vielleicht sogar ein bisschen ruhiger.

Natürlich ist ein Shutdown kein Zustand, den man sich wünscht. Aber er offenbart eine unbequeme Wahrheit: Ein Staat, der alles kontrollieren will, kann irgendwann gar nichts mehr bewegen.

Vielleicht ist das die eigentliche Lehre dieses Moments – dass die wahre Stärke eines Gemeinwesens nicht darin liegt, wie viel es steuert, sondern wie viel es zulassen kann.

IX. Ein leiser Vorschlag zum Schluss

Man muss kein Zyniker sein, um zu erkennen: Der amerikanische Stillstand ist ein Lehrstück. Er zeigt, dass Politik an ihre Grenzen stösst, wenn sie versucht, Wissen, Macht und Verantwortung zu zentralisieren.

Die Lösung liegt nicht in noch mehr Gesetzen, Behörden oder Programmen. Sie liegt in einer neuen alten Tugend: Selbstbegrenzung. Ein Staat, der weniger verspricht, kann mehr halten. Eine Gesellschaft, die mehr selbst trägt, braucht weniger Kontrolle.

Vielleicht wäre das der Anfang einer neuen politischen Bescheidenheit – jener seltenen, fast vergessenen Kunst, Macht nicht als Werkzeug zur Gestaltung, sondern als Pflicht zur Zurückhaltung zu verstehen.

Und wer weiss: Vielleicht würde die Welt ein Stück geordneter wirken, wenn Regierungen sich ab und zu eine bewusste „Pause“ gönnten. Nicht als Zeichen der Ohnmacht, sondern als Beweis, dass sie wissen, wann genug genug ist.

Anhang: Quellen und Datenbasis

Primärquellen:

  • Congressional Budget Office (CBO): The Budget and Economic Outlook 2025–2035, September 2025.

  • USAFacts.org: Everything You Need to Know About a Government Shutdown, Oktober 2025.

  • Pew Research Center: Political Polarization in the United States, 2025 Edition.

  • Gallup: Congressional Job Approval Rating, Oktober 2025.

  • U.S. Department of the Treasury: Monthly Statement of the Public Debt, Oktober 2025.

Sekundärquellen & Analysen:

  • The Guardian, 4. November 2025: „US government shutdown enters 36th day to become longest in history“.

  • The Washington Post, 5. November 2025: „Government shutdown becomes longest in U.S. history“.

  • Reuters, 28. Oktober 2025: „Senator Schumer sees US shutdown stretching into November“.

  • Ideastream Public Media, 24. Oktober 2025: „The federal government is still shut down – here’s what that means“.

  • Yahoo News, 20. Oktober 2025: „Why the US government might shut down again“.

Statistische Basisdaten:

  • U.S. Bureau of Economic Analysis (BEA): National Income and Product Accounts, Q3 2025.

  • U.S. Census Bureau: Population Estimates and State Economic Data, 2025.

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